Ich frage meine Trauer:
Unbekannt
„Wie lange wirst du mich begleiten?“
„So lange, wie du deinen verstorbenen Menschen liebst und vermisst“ flüstert sie.
„Dann wirst du bis zu meinem Lebensende bei mir bleiben.“
Sollten wir nicht „langsam“ Übung haben? Übung diesen Tag im Jahr zu überstehen?
Sollte es nicht „einfacher“ werden?
Sollten wir nicht darauf vorbereitet sein?
Nein, Nein, Nein.
Mein Körper fing dieses Mal bereits zwei Wochen vorher an zu rebellieren.
Ich hatte eine leise Ahnung, dass es vielleicht mit dem heutigen Tag zu tun hat, aber ich dachte, ich bin gefasster denn je. Bin mir dessen Bewusst, was dieser Tag macht. Ich dachte, ich war drauf vorbereitet.
Vorbereitet auf die Emotionen. Die Gefühle. Die Sehnsucht. Die Wut. Ich dachte ich wäre darauf vorbereitet.
Ich schaue auf das Datum und es fühlt sich immer noch falsch an. Schaue auf die Uhr, und auch die zeigt die 11.
Dann, wenn der heutige Tag wieder vorbei ist, weiß ich, es geht weiter. Wie immer. Es geht einfach weiter.
Und im Hinterkopf bereite ich mich auf Weihnachten vor. Es ist ein hangeln von Ast zu Ast. Zwischendrin kann man sich kurz „ausruhen“ und dann geht es wieder weiter mit der Trauer, der Wut, der Angst.
Und zwischen den Pausen stehe ich mit mir selbst im Gericht.
Darf ich lachen, obwohl du nicht mehr hier bist?
Darf ich mich freuen, obwohl du fehlst?
Darf ich mir etwas „neues“ kaufen, was mir Freude bereitet, obwohl du weg bist?
Darf ich verreisen, obwohl du nicht mit fahren kannst?
Darf ich Spaß haben, obwohl du nicht dabei bist?
Darf ich dankbar sein, obwohl ich so sehr betrogen wurde?
Darf ich sagen, heute geht es mir gut, obwohl du einfach gegangen bist?
Darf ich glücklich sein, so ganz ohne dich?
Darf ich stolz sein,
darf ich voller Vorfreude sein,
darf ich mich glücklich schätzen,
darf ich Wünsche haben,
und, darf ich dankbar sein?
All die Fragen stelle ich mir immer und immer wieder.
Überlege oft, ob ich so etwas oder noch viel mehr überhaupt sagen darf.
Darf ich das?
Ich darf.
Ich darf das alles, es ändert sich aber nichts an all dem, wie es einem dennoch geht.
Ich darf alles und noch viel mehr.
Und vor allem darf ich dankbar sein, dich kennen und lieben gelernt zu haben.
Und ja, ich habe bei allem DICH, Hannes, im Hinterkopf.
Ich habe dich in meinen Gedanken und immer in meinem Kopf und stehe täglich mit all den Gefühlen und Taten im Zwiespalt.
Alles was ich tue, sage, wie ich reagiere,
all das passiert nicht mehr einfach so.
Es passiert/geschieht anders, ich bin anders und doch normal.
Ich bin gezeichnet vom Leben und ich trage meinen Schmerz und meine Trauer nicht nur nach Innen, sondern auch nach Außen.
Ich erzähle allen von meinem Sohn, meinem zweiten Wunschkind, von dir HANNES.
Nicht um Mitleid zu bekommen, glaubt mir, und auch nicht um liebe Worte zu erhalten, ich erzähle allen von dir, weil du mein KIND bist.
Ich habe dich wachsen gesehen und unter meiner Haut gespürt, auf die Welt gebracht und dir 16 Wochen und 6 Tage unsere Welt gezeigt.
Dein zu Hause, deine Schwester, deine Familie. Du hast gelebt und warst, nein bist echt.
Ich radiere dich nicht aus, nur weil das Thema „Hannes“ plötzlich zum Thema geworden ist,
welches vermieden werden möchte, weil es eben Mitleid, aber auch Mitgefühl ausdrückt.
Es wird immer schwierig sein, dieses „Thema“ aber wenn wir die Augen davor verschließen wird es nicht besser, nein dann wird es schlimmer.
Nicht alle können damit umgehen, mit dem Tod, mit all dem drum herum danach und ich gestehe, ich bin da niemanden böse. Wer möchte schon von etwas so negativ belastenden die „Routine“ in Sachen Umgang haben.
Ich nicht und dennoch ist es Alltag geworden. Wir kommunizieren es nach wie vor offen na erklären der Hummel immer mal wieder, dass der Tod leider zum Leben dazu gehört.
Deine Fotos stehen im Wohnzimmer, wie auch alle anderen Fotos von Familie und Freunde.
Nur deine Fotos können nicht mit wachsen, deine Fotos sind gemacht und bleiben bei 16 Wochen und 6 Tagen. Du bleibst mein ewiges kleines und so, so hübsches Baby.
Und so unschuldig wie du bist und warst siehst du mich immerzu an.
Dein Foto sieht mich an und ich bin so so stolz dich kennen gelernt zu haben und dich MEIN nennen zu dürfen.
Meine Augen füllen sich mich Tränen und ich blicke zu deiner großen Schwester und zu deinem kleinen Bruder und weiß das LEBEN und die LIEBE wieder so viel mehr zu schätzen.
Aber auch heute, am dritten Todestag, fällt alles noch wieder viel viel schwerer.
Aufstehen, Anziehen, Zähne putzen, Frühstück vorbereiten, die Hummel zur Schule bringen, Essen, zum Grab gehen, leben.
LEBEN, ja leben, das fällt heute wieder etwas schwerer.
Ein Teil von mir sehnt sich so unglaublich sehr nach dieser Vollständigkeit, die ich nie wieder verspüren werde. Und an diesen blöden Tag ist es einfach unglaublich dunkel in mir, in meinem Herzen. Und ich lasse es zu. Nur für eine bestimmte Zeit und dann muss ich alles dunkle, alle Sehnsüchte und Wünsche wieder frei lassen, sonst gehe ich daran kaputt, langsam, Tag für Tag.
Was aber bleibt und immer ein klein wenig da ist, ist meine Wut. Ja, ich bin noch immer wütend, so so wütend.
Und heute bin ich besonders wütend.
Ich darf das.
Andrea ❤️
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Sandra Cura
15. November 2021 13:05🕯
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